Das Relief in der Evangelischen Kirche St. Martin zu Nöttingen
Ein im Enzkreis wohl einmaliges Kunstwerk, etwa tausend Jahre alt, ziert die evangelische Kirche in Nöttingen. Im Kunstführer für Pforzheim und den Enzkreis ist es leider nicht erwähnt, und in Bickels Geschichtsband „Remchingen“ findet man nur eine sehr undeutliche und irreführende Abbildung mit einer nichtssagenden Erläuterung.
Bei dem Relief an der Nordwand im Innenraum der Kirche hat es die Gemeinde mit einem zweifachen Glücksfall zu tun: Bei den Renovierungsarbeiten Anfang der 70-er Jahre sind die drei Bruchstücke überhaupt erst entdeckt worden,
das rechte Teilstück unter dem Fenster bei der heutigen Emporentreppe, das mittlere und linke in der Südwand neben dem kleinen Kircheneingang. Das kategorische „Nein!“ des damaligen Pfarrers Walter Lauer hat das Relief vor dem Zugriff des Landesdenkmalamtes für die Nöttinger Kirche bewahrt.
Im Mittelalter pflegten solche Reliefs das Westportal einer Kirche nicht nur zu schmücken, sie sollten auch dazu dienen, unholde Geister abzuwehren, deren Angriffsrichtung aus dem Westen vermutet wurde, „ex oriente lux“ (vgl. Mt. 2,2; Hes. 43,2), aus dem Osten das Licht, aus Westen die Mächte der Finsternis.
Vermutlich war also das Relief über dem Westeingang eines früheren Baus der jetzigen Kirche angebracht; zumindest zwei Vorgängerbauten haben sich bei den Grabungsarbeiten für den Einbau der Heizung unter dem jetzigen Kirchenboden nachweisen lassen. Die heutigen Kircheneingänge stammen von 1785, als das Langhaus z.T. nach Süden verbreitert wurde und nach Westen um ca. 3m verlängert wurde. Die Erweiterung wurde notwendig, weil Ober- und Mittelmutschelbach sowie das Unterdorf von Auerbach nach Nöttingen eingepfarrt worden waren.
Spätestens im Zuge dieses Umbaus wurden die drei Bruchstücke der Skulptur an den Fundorten als simple Mauersteine verwendet.
Dass die Kirche uralt ist, zeigt das Martinspatrozinium, des bevorzugten fränkischen Heiligen in der Zeit vom 7.- 9. Jhdt (vgl. St. Martin in der Altstadt von Pforzheim oder Brötzingen). Die Kirchen wurden i.d.R. an der Stelle gallo-römischer Heiligtümer oder auf den Grundmauern von Profanbauten errichtet; die Zentralfunktion des jeweiligen Ortes blieb erhalten, und das alte Wegenetz konnte weiter genutzt werden. Eine solche überörtliche Bedeutung besaß auch St. Martin in Nöttingen, was der Sitz eines Dekanats (zumindest bis 1324) eindeutig zeigt.
Bei einer Analphabetenquote von mindestens 95% vor etwa 1000 Jahren konnten Glaubensinhalte nur durch Bilder vermittelt werden, deren Bedeutungsgehalt uns Heutigen nur schwer erschließbar ist. Der Steinmetz, handwerklich noch etwas unbeholfen, wenn man mit seinen Kollegen ca. 200 Jahre später vergleicht, hat jedoch die für ihn oder den Auftraggeber wesentlichen Dinge herausgemeißelt und einen „lebendigen Stein“ (1.Petr. 2,5) geschaffen.
Im Zentrum stehen die drei Kreuze von Golgatha, ein großes und zwei kleine, von denen das eine rechts etwas größer und näher am Großkreuz ist (vgl. Luk. 23,39-43, reuiger und verstockter Sünder).
Von rechts versucht ein massiges Tier – sicherlich kein Nashorn, wie vermutet worden ist – wie eine Art Panzer gegen das Kreuz anzurammen und es umzustürzen. Die Füße sind gestaltet wie Bärentatzen, es hat zwei Hörner. Damit muß der Steinmetz die beiden Tiere der Apokalypse (Offb 13, 1-18), die aus der Erde und dem Meer kommen, in eines zusammengefasst haben. Das Tier, dem es anscheinend gelingt, den Menschen seinen Willen aufzuzwingen, steht unter dem Befehl der Schlange, die Sinnbild des Satans ist; aber das Tier wird vom Lamm = Christus auf der rechten Seite des Kreuzesbalkens abgewehrt. Die Schlange ihrerseits versucht, das Lamm zu belästigen.
Demgegenüber sehen die „Hilfstruppen“ des Lammes etwas schmalbrüstig und schmächtig aus; sie sind indes als die vier Evangelistensymbole auszumachen: Engel (Mensch), Stier, Löwe und Adler findet man in Hes. 1,10 und Off. 4,7; man hat sie schon ab dem 2. Jh. den Evangelisten zugeordnet:
1) ganz links der Erzengel Michael, gewissermaßen Generalfeldmarschall der himmlischen Heerscharen, kenntlich an Schwert und Schild (es sind keine Flügel, sondern der typische Rundschild des 10. Jhdts.). Mit der Posaune erweckt er die Toten aus den Gräbern. Nicht ausgeschlossen ist, dass er stellvertretend für die sieben ungenannten Engel und deren Posaunenstöße (Off. 8,6-11,15) steht. Engel – oder Mensch – ist Symbol für den Evangelisten Matthäus.
2) Der Stier rechts vom Engel (Lukas) steht für das unbefleckte Opfer Christus (es gab im Tempel in Jerusalem einen besonderen Opferaltar für makellose Stiere).
3) Der Löwe – leider fehlt auf dem Relief sein Kopf, beim Auffinden versehentlich abgeschlagen von Pfr. Lauer, was er heute noch bedauert – (Markus) symbolisiert als König der Tiere die Wüste (vgl. 40 Jahre war das Volk Israel in der Wüste, Jesus 40 Tage) die Kraft der Auferstehung und der Todesüberwindung.
4) Der Adler (Johannes) sitzt auf dem linken Querbalken des Kreuzes; er ist dem Lamm am nächsten, als Lieblingsjünger Jesu, Symbol für die Himmelfahrt und die hohe Theologie (Joh.1,1: „Im Anfang war das Wort ...“). Der Vogel auf dem Relief ist sicherlich kein Hahn oder eine Taube.
Wenn man die Maßverhältnisse berücksichtigt (5:3), behalten das Lamm und seine Helfer letztlich den Sieg über die Mächte der Finsternis. Damit stellt der unbekannte Steinmetz mit seinem Werk die zentrale Botschaft des Evangeliums dar: Jesus Christus hat uns von der Macht der Finsternis errettet (Kol 1,13), er ist auferstanden (MK 16,6), er ist der König aller Könige und Herr aller Herren (Offb 17,14). Christus hat dem Tode die Macht genommen, er ist auferstanden, der „König aller Könige und Herr aller Herren“.
20.10.2006 Gottfried Carl